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Wie lebe ich meine Bibel?

Von P. Eduard Juhl, Hamburg - St. Pauli 1925

Eine merkwürdige Frage: Wie lebe ich meine Bibel? So merkwürdig, daß der Drucker sie nichtverstand als ich sie zum erstenmal drucken ließ. Er meinte, ich hätte mich wohl verschrieben. Und doch eine sehr wichtige Frage. Die Bibel will verstanden, geglaubt, gelesen sein. Aber sie will mehr: sie will gelebt sein. „Es sind ja nicht Lesewort, sondern eitel Lebewort drinnen," sagt Luther. Er meint zweifellos damit, daß lebendiges, lebenserweckendes Wort darin sei. Man hat aber wohl auch das Recht, es so aufzufassen: Die Bibel ist nicht Lesebuch, sondern eitel Lebebuch: Sie will gelebt sein. Christentum ist nicht Lehre, sondern Leben. „Ich bin der Weg," sagt Jesus. Einen Weg muß man gehen, bis zu Ende gehen. Dann erst kann man sehen, ob er in die Irre führt oder einen zum Ziel bringt. Törichte Menschen, die am Anfang eines Weges schon von diesem sagen, daß er doch nicht ans Ziel führt. Sie haben keine Berechtigung dazu, bis sie ihn gegangen sind - bis zu Ende gegangen. Törichte Menschen! Und doch machen sie's mit der Bibel immer wieder so. Die Bibel will wie ein Weg gegangen, sie will gelebt sein. Und erst, wenn man das tut, wenn man diesen Weg bis zu Ende ausgeht, hat man ein Urteil über ihren Wert oder Unwert. Das soll sich jeder Bibelkritiker immer wieder sagen.

In meinem Leben hat dies vor vielen Jahren eine entscheidende Bedeutung gehabt, als ich nach vielem Suchen, Mühen und Irren erkannte: Jesus ist nicht ein Punkt, zu dem du unter allen Umständen hingelangen mußt, nein, Jesus - die Bibel ist ein Weg; nicht nur „meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege," sondern weit mehr: der Weg selbst, den ich gehen muß. Ja, es besteht sogar ein merkwürdiger Zusammenhang gerade bei der Bibel zwischen Lesen und Leben, zwischen dem Gehen des Weges und dem Erkennen desselben: „So jemand will...,der wird innewerden...", d.h. der wird erkennen... - „ - Erst heißt es: Wollen! Sich abwenden wollen vom verkehrten Weg und den Weg Gottes, den Weg der Bibel gehen wollen, Schritt für Schritt, dann wird man ihn auch immer mehr und mehr als den richtigen erkennen. Der sittliche, auf Gott gerichtete Wille geht dem Verständnis und der Erkenntnis voraus, ja macht sie überhaupt erst möglich. Wenn du nicht willst, dann kann dir selbst ein Gott nicht helfen.

Es war im Manöver 1909. Im Morgengrauen zog unser Regiment ins Gefecht. Dicker Nebel lag über dem Land. Nur einen Schritt vorwärts konnte der Blick den Nebel durchdringen. Aber von vorn her kam die Kommandostimme eines Unsichtbaren, der es zu folgen galt. Und mit jedem Schritt vorwärts erkannte man ein Stück weiter den Weg und besiegte so schrittweise den Nebel, der vor einem lag. Und die Schritte mußte man tun - einen nach dem anderen - nur so erkannte man immer neu ein Stück des Weges. Und endlich - endlich war man hindurch - der Nebel wich - und hell leuchtete die Sonne eines neuen Tages über dem Ziel. Und nun - vom Ziel aus - überschaute der rückwärtsgewandte Blick den ganzen Weg, den man durch Nacht und Nebel gegangen ...

„So ist's mit Mensch und Gott und Bibel - so ist's mit dem Christentum," mußte ich denken: Das Leben des Christen ist ein Wandern in den Nebel hinein. - Dunkel ringsum ...! Aber da dringt die Kommandostimme eines Unsichtbaren durch Nacht und Nebel hindurch und ruft und lockt in den nebel hinein; der gilt es zu folgen ... Einen Schritt vorwärts nur erkennt man den Weg ... aber diesen einen Schritt gilt es zu tun ... und erst wenn man ihn getan hat, weicht der Nebel zurück ... wieder um einen Schritt, bis endlich - endlich das Ziel erreicht, über dem strahlend die helleuchtende Sonne eines neuen Tages steht ... Und rückwärts schaut der dankbar staunende Blick den langen beschwerlichen Weg, den man durh Nacht und Nebel gegangen ... gelockt, gerufen ... ins Dunkel hinein  ... und doch zur Sonne ... zum Ziel!

Daß die Bibel in weiten Kreisen so verachtet ist, das mag z. T. wohl daran liegen, daß sie zu wenig gekannt, zu wenig verstanden, zu wenig geglaubt und auch zu wenig gelesen wird. Es liegt aber ganz gewiß vor allem daran, daß sie von ihren Anhängern, von den Christen zu wenig gelebt wird.

Was bedeutet es anders, wenn Nietzsche sagt - das bekannte Wort: „Wenn überhaupt geglaubt werden soll, dann muß noch ganz anders geglaubt werden, dann ist der Durchschnittschrist eine erbärmliche Figur ... Bessere Lieder müßten mir die Erlösten singen, daß ich an ihren Erlöser glauben lerne, erlöster müßten mir seine Jünger aussehen!" Und Tausende und Millionen sprechen es ihm nach. - Das heißt doch schließlich nichts anderes als dies: Glaubt doch nicht nur der Bibel, lest doch nicht bloß eure Bibel, sondern lebt doch einmal wirlich eure Bibel! Vielleicht werden wir dann auch einmal an sie und ihren Christus glauben.

Und ähnlich das andere Wort von dem französischen Soziallistenführer Proudhon: „Die Christen sind Lügner; denn glaubten sie, was sie bekennen, sie hätten weder Rast noch Ruh." - Auch hier derselbe Schrei, nicht eigentlich nach Glauben, sondern nach Leben: Lebt eure Bibel!

Aber ist es nicht doch vielleicht eine falsche Frage: Wie lebe ich meine Bibel? - Kann man denn ein Buch leben? - Stellen wir uns doch einmal jeder selbst die Frage: Was lebst du? ... Nicht: wie lebst du - was lebst du? ... Leben - was ist eigentlich Leben in diesem Sinn? Leben ist ein Umsetzen von Gedanken, Wünschen und Zielen in Worte und Taten. So meißeln wir Tag für Tag, Stunde um Stunde an einem Bild herum, das sich „unser Leben" nennt. Jeder Gedanke, der zur Tat wird; jeder Wunsch, den wir zur Wirklichkeit werden lassen; jeder Schritt zu irgendeinem Ziele hin ist ein Meißelschlag an diesem Bilde. Andere Menschen  sehen das Bild entstehen unter unseren Händen; aber sie sehen und kennen die Vorlage nicht, nach der wir arbeiten, die wir herausmeißeln. Die Vorlage kann ganz verschieden sein. Die Gedanken, Wünsche und Ziele, die wir hineinmeißeln in das Bild unseres Lebens, können in uns selber liegen, sie können aber auch außer uns liegen. Eine Braut, die ihren verlobten wirklich liebt, läßt nicht so sehr ihre eigenen Gedanken, Wünsche und Ziele zur Lebenswirklichkeit werden, sondern die ihres Verlobten. Die Vorlage, nach der sie ihr Lebensbild herausmeißelt, liegt nicht in ihr selbst, sondern in dem Wunsch, Willen und Ziel des von ihr geliebten Mannes.

Jetzt verstehen wir es, daß man auch „seine Bibel leben" kann. Ich lebe meine Bibel, d. h.: ich meißle die Gedanken, die Willensrichtung, die Ziele, den Geist der Bibel in mein Lebensbild hinein. Mein Leben ist eine Verkörperung, Versinnbildlichung der Gedanken, der Ziele, des Geistes der Bibel.

Und nun:

Wie lebe ich meine Bibel?

1.
Die Bibel ist ein Spiegel für mein ganzes äußeres und inneres, mein persönlichstes Leben. In diesem Spiegel sehe ich mein eigenes Bild; nicht das Bild, das ich selbst von mir habe, oder das andere Menschen von mir haben, sondern das Bild, wie es der Wirklichkeit entspricht. In der Bibel sehe ich nicht, wie ich über mich denke, oder dieser und jener über mich denkt, sondern wie Gott über mich denkt, und darum: wie ich wirklich bin. Dieses Bild, das ich in dem Spiegel der Bibel von mir selbst sehe, das entspricht nun auch keineswegs dem, das ich selbst von mir habe oder wie die Menschen es von mir haben.

Es kam einmal ein unbekannter Mann zu mir in die Sprechstunde. Als ich ihn aus dem Wartezimmer in mein Arbeitszimmer ließ, fiel mir auf, daß er einen leeren Rucksack und eine leere Handtasche dort abgesetzt hatte. Es war mir, als gäbe Gottes Geist mir Licht, den Mann zu durchschauen, und es durchzuckte mich mit völliger Klarheit: das ist ein Dieb! Ich bat ihn, Platz zu nehmen und fragte freundlich, womit ich ihm dienen könne. Dann erzählte er mir, er sei in großer Not - keine Arbeit - Frau und Kinder hungern - er habe sich schon überlegt, ob er nicht seiner Frau raten solle, sie möchte sich einen anderen Mann nehmen, der sie und die Kinder besser versorgen könne als er. Nun sei er aber gerade an meinem Haus vorübergekommen, hätte mein Schild da gesehen, und da hätte er gedacht, ich könne ihm vielleicht helfen. Und nun bäte er mich, ich möchte ihn doch als Berufsarbeiter in der Stadtmission anstellen. - Jetzt wußte ich genau, wes Geistes Kind ich vor mir hatte und daß meine innere Stimme mich nicht getäuscht und fragte ihn: „Glauben sie wirklich, daß man einen als Berufsarbeiter der Stadtmission anstellt, der eben noch Frau und Kinder verlassen wollte und nur, weil er dann plötzlich ein Schild an einem Hause sah, auf den Gedanken kam: du könntest vielleicht Stadtmissionar werden?" Dann wagte ich zu bezweifeln, daß er überhaupt nicht mit solchen Absichten zu mir gekommen sei. Er beteuerte aber immer wieder: „Nur zu diesem Zweck bin ich gekommen. Ich weiß sehr wohl, daß ich nach meinem Herzen nicht ganz dazu passe; aber ich glaubte, ich könne wenigstens mein Brot dadurch verdienen und könne dann auch nebenbei - wissen sie - so etwas -- so etwas --- so etwas --- Religion dabei noch mitbekommen. Denn sehen sie, da ist doch so manches im Christentum oder in der Religion oder in der Bibel, was ganz dunkel ist und was ich nicht verstehen kann, und da dachte ich, sie können mir dann, wenn ich in der Satdtmission arbeite, so'n bißchen Aufklärung darüber geben. und so könnte ich denn vielleichtauch ein Christ werden."
„Sie haben ganz recht," antwortete ich, „da ist unendlich vieles im Christentum und in der Bibel, was man nicht gleich verstehen kann, was wir vielleicht unser ganzes Leben nicht verstehen werden. Aber darf ich ihnen mal eben eine kleine Geschichte erzählen, die ich kürzlich hörte und an die ich durch sie eben erinnert werde? - Da kam einmal ein Mann, der gerade kein anständiges Leben führte, zu einem gläubigen Christen und sagte: „Ich möchte gern mit ihnen über Religion sprechen. Sie wissen, es gibt manche Dinge in der Bibel, die nicht recht klar sind. Wenn sie mir die erklären können, dann will ich auch ein Christ werden." Der angeredete Christ wußte wohl, wen er vor sich hatte. Er blickte ihm fest in die Augen und sagte: „Es gibt allerdings manche Dinge in der Bibel, die nicht leicht verständlich sind, aber eines ist jedenfalls gut zu verstehen: Du sollst nicht ehebrechen!" - (und nun verließ ich den Boden der Geschichte und fügte hinzu:) „oder das andere: Du sollst nicht stehlen! - Kann man das verstehen?" - „Ja" - antwortete der Mann, der, während ich sprach, immer mehr in sich zusammensank und nun, als er sich entlarvt sah, völlig entgeistert dasaß - „ja, das - kann - man." „Nun," entgegnete ich, „dann gehen sie hin und setzen sie dies, was sie von Bibel und Christentum verstanden haben, in die Tat um, kämpfen sie darum, setzen sie ihr ganzes Leben dafür ein! Und - wenn sie dann nicht weiter können, dann kommen sie wieder; dann kann ich ihnen vielleicht helfen." - Kleinlaut griff er nach seinen Sachen und schlich zur Tür hinaus.

So redet die Bibel zu jedem Menschen, auch wenn einem vieles dunkel bleibt, eine deutliche Sprache und richtet die geheimsten Gedanken. Dem einen sagt sie: Du sollst nicht lügen! Dem anderen: Du klebst am Gelde, du bist ein Geizhals, du bist ein Schmeichler, du sollst nicht klatschen. Und wieder anderen: Du bist ein Knecht deiner Zigarre oder irgendeiner unscheinbaren „unschuldigen" Gewohnheit - du bist ein Heuchler - du bist ein liebloser, selbstsüchtiger Mensch. Und ach, noch viel unscheinbarere Züge deckt sie auf. Jedem zeigt sie sein eigenes Bild. Und dieses Bild ist immer ein häßliches Bild, und der Mensch mag es nicht anschauen. Und immer neue häßlichere Züge zeigt uns die Bibel an unserem Bilde. Sie ist kein Schmeichler. Sie ist unbestechlich ehrlich. Die Menschen sagen vielleicht von uns: sie hat ein gutes Herz; er ist „ein braver, ehrlicher Kerl"; sie ist eine edle Frau, ein unschuldiges, junges Mädchen; er ist ein unverdorbener, junger Mensch. Und wir lassen es uns gern gefallen.
Die bibel aber sagt: „Da ist keiner, der Gutes tue, auch nicht ein einer ... Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den sie an Gott haben sollten ..." In dir wohnet „nichts Gutes" ... Du bist „fleischlich, unter die Sünde verkauft" wie ein Sklave. Du tust nicht, was du willst; was du hassest, das tust du ...". „Da ist keiner, der gerecht sei" - also auch ich nicht. „Da ist keiner, der verständig sei" - also auch ich nicht. „Da ist keiner, der nach Gott frage" - also auch ich nicht. „Sie sind alle abgewichen und allesamt untüchtig geworden" - also auch ich.
Und weiter malt die Bibel das Bild des Menschen, also auch mein Bild: Dein „Schlund ist ein offenes Grab; mit deiner Zunge handelst du trügerisch; Otterngift ist unter deinen Lippen; dein Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit. Deine Füße sind eilend, Blut zu vergießen; auf deinen Wegen ist eitel Schaden und Herzeleid, und den Weg des Friedens weißt du nicht. Es ist keine Furcht Gottes vor deinen Augen". Und weiter sagt die Bibel von diesen unter die Sünde verkauften Menschen, also auch von mir: „Da sie sich für weiße hielten, sind sie zu Narren geworden ... Dieweil sie wußten, daß ein Gott ist und haben ihn nicht gepriesen als einen Gott, noch ihm gedankt, sondern sind in ihrem Dichten eitel geworden, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert." ... aber „Gottes Zorn vom Himmel wird offenbart über alles gottlose Wesen und Ungerechtigkeit der Menschen ..." - also auch über mich! „Darum hat sie - also auch mich - Gott dahingegeben in ihrer Herzen Gelüste, dahingegeben in Unreinheit ... dahingegeben in schändliche Lüste ... dahingegeben in verkehrten Sinn, zu tun, was nicht taugt".
Und nun achte man auf das Bild, das die Bibel jetzt entwirft von diesen um ihrer Sünde willen unter Gottes Zorn stehenden Menschen: Sie sind „voll alles Ungerechten, Hurerei, Schalkheit, Geizes, Bosheit, voll Neides, Mordes, Haders, List, giftig, Ohrenbläser, Verleumder, Gottesverächter, Frevler, hoffärtig, ruhmredig, schändlich, den Eltern ungehorsam, Unvernünftige, Treulose, Lieblose, unversöhnlich,  unbarmherzig".
So denkt die Bibel über mich .... so denkt Gott über mich: Nichts Gutes an mir ... voll alles Bösen ... unter die Sünde verkauft ... unter Gottes Zorn ... verdammt ... verloren!!!

Und nun: Wie lebe ich meine Bibel? So lebe ich meine Bibel, indem ich „ja" zu diesem Bilde sage, das sie von mir entrollt - nichts beschönige - nichts vertusche; sondern mich darunter beuge: „Ja - so - gerade so bin ich ... solch ein Scheusal!" So lebe ich meine Bibel. Das ist das erste.
O, das ist nicht leicht, so seine Bibel zu leben. Wie schwer schon ist es: „ja" zu sagen zu einem kleinen Unrecht. Wie viele straucheln daran, daß sie es nicht tun! - Aber wieviel schwerer ist es, zu einem solch scheußlichen Bilde, ja zu jedem einzelnen Zuge sich zu bekennen: Ja, das ist mein Bild.
Das kommt nicht von heute auf morgen. Das fängt klein an: zu jedem kleinsten Unrecht, das die Bibel aufdeckt, ja sagen - und schließlich zu dem ganzen Bilde: Ja, das bin ich!
So lebe ich meine Bibel, indem ich ja sage zu ihrem Gericht.

2.
Aber -! Hinter diesem Bilde, das die Bibel von mir malt, hinter diesem abscheulichen Bilde, über dem mir das Grauen kommt und unter dem ich zusammenbreche - hinter diesem Bilde steht ein gewaltiges Aber!

Weiter lese ich meine Bibel, immer mehr zusammenbrechend unter diesem meinem eigenen scheußlichen Bilde, immer verzweifelter über mich selbst. Und doch immer wieder blitzt es von ferne wie Hoffnungsschimmer hinein in all das Dunkel. Immer wieder kommt dieses Aber der Verheißung: Ja, deine Sünde ist „blutrot" - aber sie soll dennoch „schneeweiß" werden. „Ja, mir hast du Arbeit gemacht mit deinen Sünden und hast mir Mühe gemacht mit deinen Missetaten - aber ich, ich tilge deine Übertretungen um Meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht." Ja, „Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns vor dir verborgen - aber mit ewiger Gnade will ich mich dein erbarmen". Ja, „es sollen wohl Begre weichen und Hügel hinfallen - aber meine Gnade soll nicht von dir weichen und der Bund meines Friedens soll nicht hinfallen". Ja, du bist elend und arm, nackt und bloß, verworfen und verdammt in meinen Augen - nichts Gutes an dir - aber „fürchte dich nicht; denn ich habe dich erlöset, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein".
Ja, du bist verkauft unter die Sünde, dein Blut ist vergiftet, dein Leben ist verseucht von der Sünde, dein Schade ist verzweifelt - aber „gedenke nicht an das Alte und achte nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein neues machen; jetzt soll es aufwachsen, und ihr werdet's erfahren, daß ich Weg in der Wüste mache und Wasserströme in der Einöde" ... denn „ich habe dich lieb", spricht der Herr. Und er spricht nicht nur so, er handelt auch so.

Ein Bild aus dem Menschenleben:Auf dem Lande wohnte eine alte Frau. Früh schon war ihr Mann gestorben, und mit rührender Liebe und Treue hatte sie ihre einzige Tochter aufgezogen. Mutter und Kind waren ein Herz und eine Seele. So war es immer gewesen. Als aber die Tochter herangewachsen war, da erwachte in ihr die Sehnsucht nach der Fremde, und sie nahm Stellung in einer fernen, großen Stadt. Voll zärtlicher Liebe blieben die Briefe zwischen Mutter und Kind. So ging es eine geraume Zeit. Dann kam seltener ein Brief aus der Stadt auf das einsame Dorf, und immer einsilbiger wurden die Briefe und immer nichtssagender, und schließlich - blieben sie ganz aus. - Das Herz der Mutter krampfte sich zusammen, sie wußte es nun: sie hatte eine „verlorene Tochter".
Da hielt es die alte Frau nicht länger auf dem stillen, einsamen Dorf. Sie wagte - was sie noch nie getan - die weite Reise in die große, unbekannte Stadt, um ihre Tochter zu suchen. - Vergeblich streifte sie durch die menschenvollen Staßen - vergeblich fragte sie auf den Meldebüros und in den Gasthäusern - nirgends wußte man von ihrer Tochter. Dann faßte die alte Mutter mit zerquälter Seele einen letzten heldenhaften Entschluß: sie ging in die verrufenen Lokale und Straßen der Stadt. Immer tiefer stieg sie hinab in Schmutz und Elend ... immer scheußlicher grinste und gierte das Laster sie an ... Da - in einem besonders verrufenem Lokal einer finsteren Straße war's - da durchzuckte sie plötzlich der Gedanke: hier ist meine Tochter gewesen! - Sie fragte, aber niemand konnte ihr Auskunft geben. - Da suchte sie ein altes Bild aus ihrer kleinen Handtasche hervor, ein Bild, das sie selber darstellte und das ihre Tochter immer so gern gehabt, weil - wie sie sagte - von diesem Bilde die alten, gütigen Augen sie so besonders liebevoll anschauten. Das Bild nahm die alte Frau und heftete es an die Wand des Lokales und schrieb mit eigener Hand darüber: „Mein Kind, ich liebe dich noch immer!" ... Dann ging sie und fuhr wieder heim.

Nicht lange, so kam die Tochter wieder in dies Haus, lustig lachend mit ein paar Freundinnen ... Da - was war das? - Ihr Fuß stutzte ... dann stürzte sie vor .. War das nicht das Bild der Mutter? - Wie? ... die Mutter hier gewesen ... hier? - Soweit der Tochter nachgegangen - so tief in Schmutz und Schande sie gesucht! ... Doch, was stand da ...? „Mein Kind - ich liebe dich - noch immer!" ... Sie brach zusammen - Tränen stürzten aus den Augen der Tochter - die Freundinnen lachte und spotteten - sie riß sich los und reiste heim. ... Die Liebe hatte sie gerettet.

Ein Bild - nur mit menschlichen Farben, und doch ein Gleichnis für göttliche Dinge. - Gott ist uns nachgegangen - in Not und Elend, in Sünde und Schande. Und er hat uns sein Bild gegeben, ein Bild, aus dem uns Augen so voll suchender, erbarmender Liebe anschauen. ... Auf Golgatha hat Gott uns sein Bild gegeben, über diesem Bilde - da steht's mit Gottes eigener Hand geschrieben: „Mein Kind, ich liebe dich - noch immer!" Gott ließ das alles zu - Gott tat das alles, damit wir's glauben könnten, daß er uns liebt. Es gibt so viele Menschen, die heute darüber an Gott irre werden, daß er diesen Krieg zugelassen hat, den wir im letzten Jahrzehnt erlebt. Ach - Gott hat noch  ganz etwas anderes zugelassen: daß sein einziger geliebter Sohn in diese Räuberhöhle unserer Erde ging, gequält, verspottet und gekreuzigt wurde - von uns verworfenen sündigen Menschen, und doch - für uns - das alles still erduldete, damit wir's glauben könnten: „Ich habe dich lieb." ... „Mein Kind, ich liebe dich noch immer" trotzdem du so abscheulich bist!"

Und nun: Wie lebe ich meine Bibel? So lebe ich meine Bibel indem ich: „ja" zu diesem Trost sage. - Ich nehme Gott beim Wort und stelle mich auf sein Wort und unter alle seine Verheißungen. ... Ich klammere mich daran, gerade wenn es ganz dunkel ist. ... Und dann erlebe ich den Trost der Bibel als die wunderbarste Wirklichkeit in meinem Leben: Nacht wird Licht und Tod wird Leben.
So lebe ich meine Bibel, indem ich: „ja" sage zu ihrem Trost.

Und 3.
indem ich: „ja" sage zu ihrem Ziel.
Was ist das Ziel der Bibel mit mir? - „Gott schuf den Menschen Ihm zum Bilde". - Menschen Gottes, Gott ähnlich sollen wir werden, verklärt in Christi Bild, von einer Klarheit zur anderen, von einer Stufe zur anderen ... umgestaltet in das Bild Christi. Lotzky hat einmal den Satz gewagt: „Wie Jesus gesagt hat: Wer mich siehet, der siehet den Vater, so sollten die Christen sagen können: Wer uns siehet, der siehet Christus," oder wie Paulus sagt: „Nun aber lebe nicht ich, Christus lebt in mir." Die Bibel leben, das heißt vor allem: Christus leben. Nur zwei Züge von diesem Bilde will ich streifen: Gott spricht: „Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig". Das hätte auch Jesus sagen können. Und zu diesem Zuge an seinem Bilde nur noch den anderen: Er spricht: „Ich bin die Wahrheit". - Das ist das Ziel der Bibel mit mir: Wahr werden und ... rein werden!

Darunter setze ich mein: „Ja!" ... ein wirkliches „Ja" ... ein ganzes „Ja" und nicht ein halbes: ich will ganz wahr werden ... ich will ganz rein werden ... ich will wahr und rein werden um jeden Preis!
Das Ziel wird nicht einmal erreicht. Bis dahin ist ein Weg - ein weiter Weg. - Ich sage: „Ja" zu jedem Schritt auf diesem langen Weg, und wenn er noch so weit und sauer wär!
Von diesem Wege gehen viele Irrwege ab. - Ich sage zu allen diesen Irrwegen: „Nein," und wären sie auch noch so schön und noch so lockend.
Das Ziel des Weges liegt erst in der Ewigkeit. Darum ist das ganze Leben dieser Weg: jeder Gedanke ein Schritt ... jedes Wort ein Schritt ... jede Tat ein Schritt - entweder zum Ziele hin oder vom Ziele ab! - Ich sage „ja" zu jedem kleinsten Schritt, der mich dem Ziele näher führt. - Ich sage „nein" zu jedem Schritt, der mich abbringt von dem Ziel ... und das: mein ganzes Leben!

Wie lebe ich meine Bibel?
Ich sage „ja" zu ihrem Ziel ... ein ganzes „Ja" - ich will ihr Ziel mit Einsatz meines ganzen Lebens!

4.
Dabei weiß und erlebe ich wohl: daß ich „täglich viel sündige"; aber auch das andere sagt und zeigt mir meine Bibel: So ich meine Sünde bekenne und aufrichtig bereue, „so ist er treu und gerecht, daß er mir die Sünde vergibt und heilet mich von aller meiner Untugend".
Ich weiß und erlebe immer wieder, daß ich schwach bin und meine Kraft nicht ausreicht; aber der Gott der Bibel versichert mir: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig".
Ich weiß und erlebe es täglich auf dem langen, rauhen Wege: „Die Knaben werden müde und matt und die Jünglinge fallen" ... und die Alten auch; „aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft ...".
Ich sehe und erlebe immer wieder in dem Kreuz auf Goloatha das Gericht über meine Sünde; aber gerade dieses Kreuz pflanzt mir meine Bibel mitten in mein Leben als ein Zeichen und Quellort göttlicher Kraft und immer neuen Sieges.
Und zu dieser Kraft sage ich: „ja" ... ein ganzes „Ja" im Glauben ... kein halbes „Ja" im Zweifeln.
Ich sage: „Ja" im Gebet, indem ich demütig und doch kühn hineingreife in die Rüstkammer meines Gottes ... ich sage: „Ja" im Dank, indem ich freudig und kindlichfür all den Reichtum und all die Kraft, die mir gehört ... mir Unwürdigem.  Wie lebe ich meine Bibel?
Ich sage: „Ja" zu ihrer Kraft .. ich nehme sie und gebrauche sie als Waffe gegen jede Versuchung, Schwachheit, Not und Schuld.
Und so erlebe ich's: „Wenn ich dich anrufe, so erhörst du mich und gibst meiner Seele große Kraft".

Wie lebe ich meine Bibel? Ich sage: „ja" zu meiner Bibel ... ihrem Gericht und zu ihrem Trost ... zu ihrem Ziel und zu ihrer Kraft. Und das heißt nichts mehr und nichts weniger als dies: Ich sage: „ja" zu dem Gott meiner Bibel ... zu diesem wunderbar großen, unfaßliche Gott ... zu dem heiligen Gott und zu dem barmherzigen Vater ... der mich richtet und dennoch rettet ... der meine Sünde verdammt und dennoch mich Sünder begnadigt ... der mich verurteilt und dennoch nicht verstößt ... der mich liebt mit seiner heiligen, ewigen Liebe.
Ich sage: „ja" zu dem Gott, der sich ganz für mich will ... und der mich ganz für sich will ... „ja" zu seinem Willen ... „Nein" zu meinem Willen.

Und dieses „Ja" zu diesem wunderbaren Gott der Bibel ist - geb's Gott - ein ganzes „Ja".

Es wird gesprochen mit jedem Gedanken, mit jedem Wort und jeder Tat; es wird gesprochen mit jedem „Nein" in Versuchung und Sünde; es wird gesprochen an jedem Tag, in jeder Stunde meines Lebens ... es wird gesprochen mit meinem ganzen Leben.

Mein ganzes Leben ist dieses „Ja" zu diesem wunderbaren, heilig-großen Gott der Bibel.

Mensch und Bibel - die beiden gehören zusammen.

O, laßt sie zusammenkommen - unzertrennbar. Laßt uns „Bibelmenschen„ werden: uns hineindenken, hineinlesen, hineinkämpfen, hineinleben - hineinbeten in die Bibel! So lernen wir „mit biblischen Gedanken denken, die Dinge biblisch zu beurteilen, aus dem Geist der Bibel heraus Rat geben." Dann sprechen aus uns „Gottes Gedanken, Gottes Urteil, Gottes Rat." Und so erst, durch die Bibel, werde ich das, was ich auf Grund der Bibel sein und werden soll: ein Gottesmensch, ja: ein „Prophet" meinem kleinen Lebenskreis und von da aus meinem ganzen Volk, d. h. „Der Gesandte Gottes für die, zu denen ich gesandt bin ..."

O, laßt uns solche Bibelmenschen werden!

Amen!

Möge der Herr uns dabei helfen!